Müssen wir sterben, bevor wir in Frieden ruhen können?

„Jetzt kann ich endlich ‚Nein’ sagen“, erklärte mir eine Patientin mit Krebsdiagnose. „Nun habe ich kein schlechtes Gewissen mehr. Als ich die Diagnose Krebs bekam, war es ein großer Schock, und es dauerte ziemlich lange, diesen zu überwinden. Früher fühlte ich mich stets verpflichtet, sämtliche Aufgeben zu übernehmen. Das ist nun anders. Jetzt kann ich mich ausruhen.“ Das ist ein Phänomen, das mir in meinem beruflichen Alltag sehr oft begegnet. Brauchen wir so eine Keule, um uns Ruhe erst zu erlauben bzw. um sich ihr erstmalig zu stellen?

In Wahrheit fürchten sich sehr viele Menschen vor der Ruhe. Mit unserem Aktivismus, den wir an den Tag legen, versuchen wir uns ein Gefühl der Sicherheit aufzubauen. Das ständige Tun soll unsere Ängste, Gefühle der Einsamkeit, Leere und Leid abhalten, an die Oberfläche zu kommen. Es ist eine Art Abwehrpanzer, den wir uns durch Aktivitäten zugelegt haben. Wie sehr wir lieber etwas tun statt gar nichts, zeigt eine Untersuchung, die an der Universität in Virgina durchgeführt wurde.

Psychologe Timothy Wilson und seine Kollegen von der Universität Virgina fanden in einer Serie von 11 Studien heraus, dass die Studienteilnehmer mit breit gestreutem Alter von 18 bis 77 Jahre es nicht einmal für kurze Zeit genießen konnten, allein in einem Raum zu sein und nichts zu tun zu haben als nachzudenken oder Tag zu träumen. Einige von ihnen bevorzugten es sogar, sich leichte Elektroschocks zu geben als bloß zu sein und nur zu denken. Der Zeitraum, den die Teilnehmer ersucht wurden, mit sich allein zu sein, reichte von 6 bis 15 Minuten. Überraschend an dem Ergebnis war, sagte Wilson, dass nicht einmal ältere Menschen eine besondere Vorliebe zeigten, allein zu sein und nichts zu tun zu haben als bloß denken. So sehr stecken wir in dem Aktiv sein fest.

Vielleicht hilft uns die Aktivität, den Schmerz oft draußen zu halten. „Ich bin doch nicht unproduktiv oder gar faul. Glaubst du ich will, dass so die Leute von mir denken, wenn ich mir eine kurze Auszeit nehmen würde“, gab mir eine Stationsschwester als Antwort. Es gibt zahlreiche Sätze, die wir als Antwort parat haben, wenn wir Gelegenheit bekommen, uns Pausen zu nehmen. Wir glauben oft durch all unsere Handlungen mehr zu erreichen. Da bleibt für Ruhe keine Zeit. In Wahrheit leben wir weniger und verlieren den Grundrhythmus des Lebens, weil wir zu schnell unterwegs sind. Für sehr viele Pflanzen ist die Winterruhe unerlässlich. Auch zahlreiche Säugetiere benötigen den Winterschlaft, die sich mit Hilfe einer inneren Uhr an die Lebensbedingungen anpassen. Welcher Uhr gehorchen wir? Wir verlieren zusehends den nahen Kontakt mit der Natur und können uns kaum auf ihren Rhythmus einschwingen, der bestimmt nicht schnell sondern eher gemächlich ist.

Um all unsere Erfahrungen des alltäglichen Lebens zu integrieren, brauchen wir jedoch Zeit und Ruhe. Es sind die Pausen, die jedes Musikstück zu ihrer wahren Entfaltung bringen. Wir Menschen dürfen unser wahres Licht erstrahlen lassen, indem wir in der Ruhe wieder mehr zu uns finden und diese Zwischenräume genießen lernen. Wenn Sie nun diese Zeilen lesen, dann sind es auch die weißen Lücken auf dieser Seite, die es Ihnen ermöglichen, die Wörter zu erfassen. Diese Räume und Lücken sind so essentiell für unser Leben und wir können sie überall antreffen und sie laden uns auch immer ein, wenn wir sie nur wahrnehmen. Krankheiten wie Krebs zeigen uns die Begrenztheit des Lebens auf. Er konfrontiert uns mit dem möglichen Ende. Den Zyklus von Geburt, Wachstum und Ende finden wir überall in der Natur und auch in unserem Atem. Jeder Atemzug durchläuft denselben Prozess. Am äußersten Ende unseres Ausatems gibt es eine Pause. Halten Sie jetzt im Lesen inne und beobachten Sie für kurze Zeit den Atem. Haben Sie die Lücke entdeckt? Die Pausen sind Teil unseres Lebens und Ruhe findet sich inmitten von allem Gewöhnlichen.

Lassen Sie die Zwischenräume in ihrem Leben zu. Die Übergänge im Leben sind die Orte, an denen wir Ruhe finden.  Jetzt! …… Jetzt! …… Jetzt!. …… Das ist vielmehr ein „Zulassen“. Dabei erinnere ich mich an einen wunderbaren Satz: „Ruhe finden wir dann, wenn wir aufhören zu tun, was uns am Kontakt mit der Ruhe hindert.“ Also lassen Sie es zu!

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