Eines Tages passierte es, ich weiß nicht mehr genau wann, es war einfach da. Ich hatte das Gefühl oder das innere Wissen, dass ich dazu berufen bin, Sterbende und Trauernde zu begleiten. Seit dieser Stunde an beschäftige ich mich mit Sterben, Tod und Trauer.
Dabei wurde mir bewusst, dass wir alle wissen, dass wir eines Tages sterben werden und doch thematisieren wir kaum diese unausweichliche Angelegenheit. Wann haben Sie sich das letzte Mal vor Augen geführt, dass sie sterben werden?
Wir kennen den Zeitpunkt unseres Todes nicht, er kann jederzeit eintreten und trotzdem legen wir uns schlafen und gehen davon aus, am nächsten Tag wieder aufzuwachen. Für viele Menschen wird es zutreffen, dass sie wieder erwachen, aber einige werden in der Nacht dem Tod begegnet sein ohne sich jemals mit dem Sterben auseinandergesetzt zu haben.
Vielleicht werden jetzt viele denken oder sagen: „Ich weiß ja, dass der Tod ein Teil des Lebens ist und ganz natürlich zum Kreislauf des Menschsein dazugehört.“ Oft sind diese Aussagen leider ein heruntergespultes Wissen und wir gehen durch das Leben als wären wir unsterblich. Was wäre, wenn wir aber aus der Einsicht handeln, dass der Tod die Vollendung des Lebens ist und wir vorbereitet sind?
Sogyal Rinpoche meint: „Wir sollten über den Tod nachdenken, wenn wir glücklich bzw. inspiriert sind.“ Wenn wir uns diese Aussage zu Herzen nehmen und jetzt beginnen nachzudenken, dann können wir unsere Prioritäten richtig setzen und je eher wir beginnen, umso mehr Zeit haben wir, vollständig zu leben. Mit dem Blick auf den Tod können wir uns vor Augen führen, was uns wirklich wichtig ist. Diese Erkenntnis wird verändern, was wir im Leben erfahren. Hilfreiche Fragen können sein: „Was kann ich tun, damit mein Leben sich am Ende erfüllt anfühlt?“, Was möchte ich am Lebensende erreicht und verwirklicht haben?“, „Was gibt mir Kraft im Alltag, in meinen Beziehungen?“ , „Was hindert mich daran, das zu verwirklichen, was mir für mein Leben und das meiner geliebten Menschen wichtig ist?“ usw. Seien Sie aufrichtig zu sich selbst, denn das ist die Chance, dass Überflüssiges aus ihrem Leben verschwinden kann.
Die ganzheitliche Betrachtung des Menschsein scheint in unserem Lebens- und Gesellschafts-System verloren gegangen zu sein. Die Fragmentierung in den einzelnen Lebensbereichen nimmt seit dem Industriezeitalter immer mehr zu. Für jede Aktivität gibt es einen speziellen Raum. Die Aufgaben werden an Spezialisten delegiert, sei es an die spezialisierten Pflegekräfte in den Altersheimen, an die Spezialisten der Bestattung usw.
Ist es eine Krankheit der heutigen Zeit, dass viele Sterbende in ihrer Angst und Einsamkeit, allein gelassen werden?
Machen wir uns endlich bewusst, dass wir in einem unendlichen Netz der Verbundenheit leben. Wir stehen mit der gesamten Welt in Beziehung – denken wir an unsere Vorfahren, an unsere Eltern, an unsere Nachkommen, an unsere Freunde und an all das, was uns umgibt, was wir zum Leben brauchen -Luft, Nahrung. Das Netz der Verbundenheit reicht von der Vergangenheit über die Gegenwart bis zur Zukunft und durchzieht unser gesamtes Leben. Wir existieren, weil es Verbindungen in alle Bereiche gibt, so ist auch das Leben mit dem Tod eine ganzheitliche Energie.
Sind es nicht die Beziehungen und die Liebe zu allen Wesen, die unserem Leben erst Bedeutung und Tiefe geben?
In unserer heutigen Lebensweise versuchen wir Dinge zu trennen, für die es in der Realität jedoch keine Trennung gibt – Geist, Körper, Seele und auch Geburt, Leben und Tod sind nicht zu separieren. Viele sterbende Menschen sind in Institutionen untergebracht, weil das Betreuungsnetz zu Hause nicht vorhanden ist. Oft geht dem körperlichen Tod in den Unterbringungen ein Verlust der sozialen Nähe voraus. Wenn Menschen ihren vertrauten Ort, dort wo ihre Seele zu Hause war, verlassen müssen, verlieren sie meist das Gefühl von Geborgenheit und das Gefühl der Zugehörigkeit. Das Verwobensein in der Gesellschaft und das Erfahren des noch bestehenden Lebenssinn’ durch Gespräche mit Freunden gehen für diese Menschen oft mit dem Ortwechsel einher. Was sagen wir als Gesellschaft dazu? „Wir haben einen Platz geschaffen, wo sie versorgt werden, wir haben unsere eigenen Verpflichtungen zu erfüllen.“ Leider bleibt kaum Zeit, oder besser gesagt wir nehmen uns nicht die Zeit, hinzuspüren und wahrzunehmen, was wohl in den Betroffenen vor sich geht.
Stattdessen verfolgen wir anscheinend wichtigere Ziele, die uns die Wirtschaft und das Konsumieren vorgeben. Wir bemerken nicht einmal, dass wir uns vor dem eigenen Ich entfernen. Wie können wir da bemerken, dass wir die soziale Nähe zu bedeutsamen Menschen verloren haben? Irgendwo auf diesem gesellschaftlichen Entwicklungsweg sind unser Mut und die Bereitschaft zum Dienen an anderen verloren gegangen. Wenn der Tod ausgelagert wird, werden in den Familien das Sterben und der Tod nicht mehr erfahrbar. Gerade die letzte gemeinsame Zeit wurde im vertrauten Kreis oft als Höhepunkt in den menschlichen Begegnungen erlebt. In der Vergangenheit war der Tod in ein soziales Umfeld eingebettet. Die Erfahrung des Sterbens wurde von der Großfamilie geteilt.
Wir Menschen brauchen einander, auch wenn wir keine Großfamilie im herkömmlichen Sinne mehr darstellen, sind wird doch miteinander verbunden. Die Gemeinschaft kann dem Sterbenden und auch den Hinterbliebenen große Unterstützung bieten. Ein Gemeinschaftsnetz kann tragen und uns auch die Verbundenheit über den Tod hinaus spüren lassen. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass der Tod auch Ihre Zukunft ist?
Was kann Menschen dazu bewegen, Sterbende bzw. pflegebedürftige Personen zu Hause zu betreuen und das eingebettet sein für die Betroffenen wieder spürbar zu machen? Die Großfamilien gibt es kaum noch in unserem Umfeld, das Leben wird komplexer. Wenn aber einer aus der befreundeten Familie aufsteht und sagt: „Ich bin bereit dafür.“ und auch ein Nachbar sagt: „Ich will für dich da sein.“, dann sind es schon zwei. Es gibt einige tolle Beispiele in der Geschichte, in der durch „serving each other“ Projekte umgesetzt wurden, die das Leben von vielen Menschen auf positive Weise verändert haben. In der Gemeinschaft können wir so viel mehr erreichen. Wir alle können etwas für einander tun. Jeder von uns kann an dem Platz wo er ist, für andere da sein. Es zählt jeder Tropfen. Versuchen wir es jeden Tag: Tun wir etwas für uns selbst, für unsere Familie, für unsere Gemeinschaft, für unsere Welt, für das Universum. Wenn wir es jeden Tag auch nur ein klein bisschen tun, wird sich etwas verändern.